Professor verschafft sich bei 860-Kilometer-Tour bis London ein Stimmungsbild. Nationalistisches Denken auf dem Vormarsch. Aber auch etliche gegen Ausstieg
Ein paar Kilo leichter und mit geschundenen Füßen ist David Martin nach Deutschland zurückgekehrt. Der Wittener Uniprofessor war Anfang April vom baden-württembergischen Tübingen aus zu Fuß nach London aufgebrochen, um ein Zeichen für Europa und gegen den Brexit zu setzen. Dort kam er etwas später als geplant Ende April an. Am 1. Mai reiste der Wissenschaftler im Zug nach Witten zurück, um rechtzeitig zum Unterricht wieder vor Ort zu sein.
Interview mit der BBC in London
Sogar der britische Fernsehsender BBC war auf den französisch-amerikanischen Europa-Enthusiasten aufmerksam geworden und interviewte den 46-Jährigen zum Abschluss seiner langen Wanderung in London vor dem britischen House of Parlament. „Ich komme als veränderter Mensch zurück“, sagte Martin nach seiner Rückkehr zur WAZ. Vor allem gebe ihm zu denken, dass sich zurzeit in allen europäischen Ländern Menschen in ein rückwärtsorientiertes, nationalistisches und rassistisches Weltbild hineinsteigern würden.
„Aber generell bin ich froh, dass alles so gut geklappt hat“, sagt der Wissenschaftler. „Ich habe in England mit vielen Menschen gesprochen und konnte mir ein gutes Bild von der Stimmung in der Bevölkerung machen.“ Auf seinem rund 860 Kilometer langen Weg begrüßte der 46-Jährige jeden, dem er begegnete, mit den Worten: „Hallo, ich laufe von Deutschland nach London, um herauszufinden, ob es einen Brexit geben sollte oder nicht. Was denken Sie darüber?“
Zwischendurch zurück nach Witten
Allein 126 Menschen hat der Kinderarzt in Großbritannien auf seinem Weg von Dover nach London interviewt. „Von ihnen waren 69 gegen den Brexit, 24 unentschlossen und 33 dafür.“ Erschreckend sei, dass die allermeisten ihre Meinung nicht auf Fakten aufgebaut hätten, sondern auf Gefühlen, die durch propagandistische Inhalte ausgelöst worden seien.
Unerwartet sei für ihn auch das Ausmaß an rechtsradikalen Gedanken gewesen, die in seinen Gesprächen zutage gekommen wären – in England und anderswo: „Pro AfD, proTrump. Ganz normale, liebe Menschen verstricken sich immer mehr durch Online-Foren in dieses Gedankengut“, sagt der Wittener Professor. Unterbrechen musste er seine Reise für „wichtige Arbeit und Vorstellungsgespräche, bei denen ich dabeisein wollte“. Dafür reiste der 46-Jährige einmal extra mit dem Zug von Luxemburg nach Witten und wieder zurück, um an der gleichen Stelle seinen Weg fortzusetzen. „Dann bin ich aber auch per Anhalter weiter nach Brüssel gefahren, um die Zeit wieder aufzuholen.“
Er hätte noch weiterlaufen können
Dieser Spagat zwischen seiner Brexit-Wanderung einerseits und der Arbeit andererseits sei der anstrengendste Part gewesen. „Aber ich hätte noch weiter laufen können“, sagt Martin. „Ich kann nur jedem empfehlen, für seine Themen einzutreten. Und es ist einfach auch eine sehr schöne Form des Reisens.“
- An der Universität Witten/ Herdecke hat David Martin den Lehrstuhl für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin inne.
Von Stephanie Heske